Ich komme gerade aus Paris. Auch, wenn ich nie eine dieser schmalen Französinnen sein werde, liebe ich die Stadt (wer nicht?). Sie ist lässig, international, flirty, edel, kaputt, launisch und bildschön. Paris hat Fahrradstraßen und gute Bikes an jeder Ecke, eine edle, neue U-Bahn, USB-Plugs in den Vorortzügen und Restaurant-Preise, die absolut vernünftig sind - im Vergleich zu München. Von den schönen Menschen, dem Lebensheißhunger und der bunten Mischung mal abgesehen.
Davor war ich mit meinen Kindern in London. Übermorgen fliege ich zum Arbeiten nach Mallorca, nächsten Monat nach Ibiza.
Warum ich so flexe? Nicht, weil ich beeindrucken will (wen auch?). Leisten kann ich mir all diese Trips nicht wirklich. Ich mache das, weil ich Erinnerungen schaffen will - bevor die nächste Hölle über uns hereinbricht.
Ich mache das, weil unser Blick wieder weiter werden muss. Die Weltlage hat uns alle vom Leben abgehalten. Aber das größte Gefängnis haben wir uns im Inneren gebaut. Wir haben Bammel vor Krankheit, Tod, Inflation, Krieg. Und das ist nur das Topping auf der persönlichen Sorgentorte. Unsere Ängste sind seit 2019 nicht wirklich besser geworden. Meine auch nicht. Das einzige, wovor ich verhältnismäßig wenig Panik habe, ist Corona.
Aber ich habe gemerkt, dass ich Hemmungen habe, meinen Radius wieder zu erweitern. Ich, die ich 15 Jahre lang als Reporterin um die Welt geflogen bin. Ich, die es liebt, in vollen Restaurants zu sitzen, mich in Menschenmassen zu stürzen, die Welt zu entdecken. Ich mach mir plötzlich ins Hemd, wenn ich in einer fremden Stadt in einen vollen Zug steigen soll.
Phobien sind schon immer mein Lebensbegleiter: Ich habe Horror vor Reptilien, Fahrstühle sind für mich gleichbedeutend mit Tod, ich flippe aus, wenn es im Flieger Turbulenzen gibt. Soweit, so Woody Allen. Damit bin ich bisher dennoch ganz gut gefahren und geflogen (Buchtipp: Mit 80 Ängsten um die Welt von Francoise Hauser). Anacondas und Lifte lassen sich vermeiden, fürs Fliegen gibt es Meditation - und zur Not eine Pille. Ist aber nie nötig. Die Lust aufs Wegfahren und Nieankommen ist größer. Therapie? Nicht nötig, wenn Du diesen einen Schalter im Kopf umlegst. Von Ich kann nicht zu: Ich will aber. Das ist übrigens die Vorstufe von Leck mich!
Ich scheine aber nicht allein zu sein mit diesem unheimlichen Gefühl: Der Angst davor, wieder freier, unterwegser (eine schöne Steigerung, finde ich), sorgloser zu sein. Von Freunden höre ich, dass sie glücklich sind, endlich wieder Reisen zu buchen - nur, um dann nachts schweißgebadet wachzuliegen. Was, wenn es einen Terroranschlag gibt? Was, wenn einer krank wird und in irgendeiner Klinik am Ende der Welt festhängt? Was, wenn wieder Grenzen geschlossen werden? Was, wenn sich eine Russenrakete in die Flugbahn der Ferienmaschine verirrt? Was, wenn es ein neues Virus gibt?
Alle posten Strandfotos und jubeln: Herrlich, wieder on the road, in the air zu sein. Alle gestehen auch: Ganz wohl ist mir dabei nicht. Jürgen Margraf ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum und sagt im Deutschlandfunk: „Wir sehen signifikante Anstiege von Angst, Depressionen und Stressbeschwerden“. Die sehe ich auch. Ein Besuch beim Bäcker genügt: Viele Menschen klammern sich auch jetzt noch an Masken und Regeln. Es tut offenbar gut, einen Rahmen zu haben, in dem man sich sicher wähnt.
German Angst ist ein feststehender Begriff, der leider auch im Frühling 2022 zu 100 Prozent auf uns alle zutrifft. Wikipedia sagt, es ist eine generalisierte Angststörung, eine unbegründete diffuse Furcht oder ein nur ostentativ vorgetragenes „Leiden an der Welt“. Ich sage: German Angst ist das Was, wenn... auf Beinen - mit Regenjacke und Fahrradhelm. Immer gerüstet für eine Alpen-Exkursion, eine Platzwunde oder einen Weltkrieg.
Ich will das nicht. Ich will leben, ich will reisen, ich will es krachen lassen.
Ein bisschen Angst ist richtig und wichtig. Aber, wenn Dein Dasein nur noch aus Sparen, Vorsorgen, Doomscrollen und Gruseln besteht, bist Du nur noch ein Haar von Totsein entfernt.
Jaja, ich weiß. Die alte Sorglosigkeit der 90er kommt nie mehr zurück. Und zumindest die Umwelt profitiert davon. Aber ich warne davor, dass wir uns alle wunddesinfizieren und mental auf Straßen festkleben, weil wir glauben, dadurch werde die Welt besser.
Nach zwei Jahren voller Regeln, Warnungen und schlimmer Nachrichten ist es Zeit, das New Normal anzunehmen. Ja, es IST alles schlimm, UND wir dürfen leben.
Und jetzt buche ich meinen Sommerurlaub.
Comments