Der Sitzsack
Du bist heute sein siebter Call. Was nicht heißt, dass er viel gearbeitet hätte. Er saß einfach sehr lange da. Sein Puls ist kaum noch messbar. Woran er erkennt, dass er noch lebt? Am Hämorrhoiden-Schmerz. Heute Abend wird er auf der Couch sitzen. Morgen früh dann wieder hier. Im ersten Lockdown hat er sich gefreut, dass er nicht auch noch in der S-Bahn sitzen muss. Im zweiten hat er jede Gefühlsregung eingestellt. Seine Atmung wird flach. Erst, wenn er anfängt zu riechen, werden Nachbarn aufmerksam.
Die Beauty-Controllerin
Im ersten Lockdown war sie entsetzt über ihren faltigen Hals und ihre Merkel-Lefzen. Im zweiten ist sie klüger: Sie hat ein Ringlicht, weiß, wo in der Wohnung zu welcher Tageszeit die Sonne günstig steht. Und - sie plant schon für den nächsten Lockdown: Im Geist markiert sie die Stellen für Botox, Hyaluron und Filler. Dank Mundschutz lassen sich die Einstichstellen gut kaschieren. Die anderen haben Panik wegen der Impfnebenwirkungen? Genau ihr Humor.
Der Familien-Flüchter
Sein Home-Office ist ein Escape-Room. Im Keller - neben der alten Sprossenwand, vor den Einmachgläsern. Hier, und nur hier kann er atmen. War er im ersten Lockdown noch kurz davor, seine Familie zu vergiften, ist er diesmal durchtriebener. Er ist weg. Einfach weg. Dem Team schickt er endlose Serientermine und Brainstormings, bei denen er nichts machen muss. Hauptsache, er ist abgelenkt von der miesgelaunten Alten und dem Homeschooling-Genörgel der Kinder. Er sitzt bis 18 Uhr auf dem alten, ergonomischen Hausaufgabenstuhl seines Sohnes, bestellt sich heimlich eine Pizza an den Kellereingang. Die Boten kennen ihn schon. Sie kassieren lautlos. Manchmal onaniert er. Er ist glücklich dort unten. Und er ahnt: Nach der Pandemie kommt die Scheidung.
Der Technixblicker
Der Termin läuft schon seit zehn Minuten, da fuchtelt er mit Knackgeräuschen an den Kabeln rum. Er hebt hilflos seine Finger an die Ohren, um zu signalisieren, dass er nichts hört. Er lässt die Kamera an, wenn er popelt. Er lässt sie aus, wenn er spricht. Das hat er auch im zweiten Lockdown nicht gelernt. Er weiß nicht, wie man den Bildschirm teilt und benimmt sich auch ein Jahr nach Beginn der Video-Calls, als säße er als Performance-Kunst-Akt in der Pinakothek der Moderne. Die Versuche junger Kolleginnen, ihm zu helfen, sind allesamt gescheitert. Er zählt die Minuten, bis er wieder ins Büro kann.
Die Streberin
Sie ist Minuten zu früh im Call und hofft, dass die Chefin schon drin ist – für ein bisschen Smalltalk. Als einzige hebt sie die elektronische Hand für eine Wortmeldung. Macht die Führungskraft einen Witz, drückt sie unauffällig Fn+F3, damit ihre Lache gut zu hören ist. Noch während alle sprechen, schickt sie Unterlagen in die Runde. Sie bleibt immer bis zur letzten Sekunde und lächelt so lange, bis auch der letzte Teilnehmer „verlassen“ geklickt hat. Schade, dass es keinen virtuellen Schulhof gibt, auf dem man sie verprügeln kann. Sie passt gut zum nächsten Exemplar:
Der Präsen-Schleimer
Er kommentiert alle Vorschläge, die einer Hierarchie-Ebene weiter oben entspringen, mit Emojis und Komplimenten: „Mega Idee!“, „Danke für diesen Input!“, „Ich hab‘ das Gefühl, so wird ein Schuh draus“. Nach dem Call ist wie im Kino-Abspann: Alle anderen gehen noch in eine gute Bar, er bleibt allein im Dunkeln.
Der Lärmige
Ein Call mit ihm ist so sinnvoll wie ein Beziehungsgespräch auf dem Oktoberfest. Das Tier hat er im ersten Lockdown angeschafft. Der Kinder wegen. Jetzt sind die Kinder oft weg, und der 200-Kilo-Berner-Sennenhund oft da. Er glaubt, das Viech sei im Hintergrund kaum zu hören und weigert sich, es für die Dauer des Calls in ein anderes Zimmer zu sperren. Wegen Jaulen und so. Also bleibt der Hund. Er winselt, furzt und schnarcht. Während des Calls klingeln der Amazon-Bote, drei Nachbarn und die Kleinen, die ihren Schlüssel vergessen haben. Im Hintergrund reinigt sich die Siebträgermaschine geräuschvoll. Dass man die Mailsynchronisierung während eines Calls ausstellt, ignoriert er, so dass alle paar Sekunden ein Pling ertönt – in der Regel Werbung für eine Penisverlängerung, die Teilhaberschaft an einer Goldmine in Uganda oder die Änderung der Geschäftsbedingungen für REWE Online.Nach der Pandemie wird er sagen, er habe die Stille genossen.
Der Millennial-Checker
Während Anja und Jürgen mit Mikrophon und Kamera kämpfen und beides immer genau zum falschen Zeitpunkt ein- und ausgeschaltet haben, hat er in jedem Call ein neues Hintergrundbild: Donald Trump hinter aus Florida-Palmen geflochtenen Gittern, oder den vermummten Bernie Sanders im Alster-Einkaufszentrum. Wichtig: Es muss kommentarlos laufen. Demütigung durch Selbstverständlichkeit. Dass die Geschichte von Digital Natives mit der Geburt aufhört, hat er noch nicht umrissen. Aber die „Wo Du immer all die Bilder herhast“-Sprüche des Teams zeigen ihm: All die Stunden, die er in der Call-freien Zeit genutzt hat, waren nicht vergebens.
Die Geheimnisträgerin
Im ersten Lockdown haben sich alle über ihre Yucca-Palme, das Justin-Bieber-Poster und das Baumarkt-Regal lustig gemacht. Diesmal hat sie vorgesorgt. Im Background Blur ist hinten ein lichtdurchflutetes Loft zu erkennen, von dem alle wissen, dass sie es nicht hat. Wenn sie sich bewegt, verschwindet eine Hälfte ihres Kopfes. Jeder Call mit ihr wirkt so geheim, als arbeite sie auf 450-Euro-Basis für den Mossad. Auf Lockdown drei ist sie vorbereitet: Mit einer Greenbox und einem Stimmverzerrer. Niemand wird mehr über sie lachen. Sie wird Rache nehmen an den Marketing-Schnöseln in ihren Eames-Chairs. Und bis dann gilt: Fake it till you make it.
Der Trottel
Er wählt sich sicherheitshalber lange vor dem Termin ein, merkt aber, dass er noch Zeit hat, um auf die Toilette zu gehen, die Spülmaschine auszuräumen und seine Steuererklärung einzureichen. Währenddessen starrt das Team 45 Minuten lang auf sein leeres Arbeitszimmer und hat vor Mitleid einen Kloß im Hals.
Die Multi-Taskerin
Sie jongliert mit Calls wie Festival-Nervensägen mit Keulen: Drei Anrufe parallel auf zwei Screens? Da wird sie erst wach. Ein Vierter? Endlich eine Challenge. Warum nicht noch übers Smartphone Fragen beantworten, die gut und gerne noch eine Stunde Zeit gehabt hätten? Nebenher googelt sie alles über Herzkammerflimmern, während unten die Fuß-Creme-Packung unter den Socken einwirkt. Müßig zu sagen, dass auch Nudeln auf dem Herd stehen.
Der Hochgerüstete
Schon am zweiten Tag des ersten Lockdowns hatte er Noise-Cancelling-True-Wireless-Earphones, einen 3-D-Drucker und ein Yo-Yo-Desk. Im zweiten Lockdown hat er einen höhenverstellbaren Swopper-Chair, ein hochsensibles Mikro und Steuer-Absetz-Tipps für alle. Sein Home-Office sieht aus wie das Cockpit eines Airbus. Ohne seinen Titel wäre er nur ein irrer Prepper mit Stromaggregat und Dosendauerwurst im Keller.
Das Lästermaul
Sie vermisst den Bürotratsch zwischen Kopierer und Kaffeeküche. Niemand mehr, mit dem sie über das Crop-Top der Praktikantin und die Affäre der beiden Hübschen aus dem vierten Stock sprechen kann. Kurzerhand verlagert sie ihre Hater-Aktivitäten ins Virtuelle. Noch während des Calls ploppen Mails bei Dir auf, die Du sofort löschst: Was hat er denn da für eine peinlich leere Bücherwand? Hast Du sein Hochzeitsfoto im Hintergrund gesehen, OMG? Einmal irrt sie sich im Verteiler. Die Kaffeeküche sieht sie nie wieder.
Der Wichtigtuer
Er ist als Erster bei Clubhouse, chattet mit dem halben Konzern, veranstaltet Ressort-Feiern per Videocall, hat in den Schulen seiner Kinder Teams installiert und benimmt sich so, als habe er die Videotelefonie erfunden. Dabei war er derjenige, der früher für jede Unterschrift von Stuttgart nach München flog und noch am Gate Anweisungen ins Ohr seiner Assistentin schrie, die auch eine Stunde hätten warten können. Jetzt schwadroniert er von Augmented Reality und Gambits. Er ist fest entschlossen, auch in der Krise der Early Adopter zu bleiben, als der er immer belächelt wird.
Die Mutter
Meist ist nicht sie im Bild zu sehen, sondern ein Nest ungewaschener Haare. Irgendeins ihrer Kinder, für die sie keine Notbetreuung bekommen hat, hängt immer in ihrem bleichen, müden Gesicht, schmiert mit Nutella auf dem Monitor herum oder bekommt einen Wutanfall, weil die Glotze mal für fünf Minuten aus ist. Sie absolviert ihre Calls trotzdem professionell. Mehrmals hat man ihr das Kinderkrankengeld empfohlen und war erleichtert, dass sie abgelehnt hat. Denn man braucht sie. Alle brauchen sie. Vor allem diese Kinder, die im zweiten Lockdown nicht klüger oder hübscher geworden zu sein scheinen. Nebenher googelt sie Babyklappe und Gibt es Leihmütter auch für die Zeit NACH der Geburt?
Direkt hinter der Tür sitzt…
Der Vater
…und tut beschäftigt.
Manchmal schaut ein pickeliger, schlecht gelaunter Teenie um die Ecke, der seine Sneaker sucht. „Kennt Ihr schon meinen Sohn?“, ruft der Vater dann stolz und überlaut in sein Headset. Höfliches Nicken in der Runde. Überflüssig zu sagen, dass er der Erste ist, der die Veröffentlichung von Schulfotos seiner Kinder untersagt und ihnen keinen Instagram-Account erlaubt.
Die Downgraderin
Sie hat es weit gebracht. Viel weiter als alle in der Runde. Dass das Ligne Roset-Sofa im Hintergrund neben der 60 000-Euro-Kücheninsel nur mittelgut ankommt, hat sie im ersten Lockdown bemerkt. Jetzt sitzt sie im Wäschezimmer. Hier ist die einzig kahle Wand im Haus. Sie will nicht protzen. Sie ist eine von ihnen. Zumindest für die Dauer dieses Calls. Bis die Putzfrau den Kopf zur Tür reinsteckt und fragt, wann sie endlich bügeln kann.
Der Stalker
Er entdeckt Dich in einem Massen-Call und stuft Dich in der Kategorie 6 auf einer 10-er-Skala ein. Was solls, denkt er sich, woanders lernt man gerade eh niemanden kennen. Noch während des Termins schickt er Dir Freundschaftsanfragen für Facebook und LinkedIn und versteckt seine hormonellen Anliegen hinter Business-Floskeln und vermeintlichen Insiderwitzen. Er ist immer gerade so professionell, dass Du ihn nicht wegen Belästigung drankriegst, aber so persönlich, dass es creepy wirkt. Blockieren geht nicht. Du wirst ihn: Nie.Wieder.Los.
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