Deutschland hat einen Volkssport, der jede Rezession überlebt: Mails ignorieren.
Millionen üben ihn aus, viele macht er glücklich, manche ruiniert er.
Er ist leicht zu erlernen, man kann überall betreiben, teures Zubehör ist nicht nötig. Alles, was Sie brauchen, sind robuste Nerven und ein Mix aus Überheblichkeit und Bräsigkeit, der Kundschaft und Kollegen in den Wahnsinn treibt.
In Ihrem Postausgang sind nur beantwortete Mails? Sie reagieren immer sofort auf alle Anliegen? Schluss damit! So steuern Sie in den sicheren Burnout und töpfern bald am Chiemsee Obstschalen. Aussitzen ist das neue Abarbeiten. Auch Sie können in den
N-Olymp der Untätigen aufsteigen: Ignorieren Sie lästige Anfragen! Nennen Sie es priorisieren! Nur Sie (und ich) wissen, was das bedeutet: Abwarten. Wird sich schon regeln.
Auch Sie wollen Mailghosten wie ein Pro? Hier ein kleiner Crashkurs:
Verzweifelte Freiberufler schicken Angebote? Auch, wenn Sie jetzt denken: Den kenn ich doch, der war doch auch mal hier - antworten Sie nicht! Da kann ja jeder kommen. Wenn es wichtig ist, schreibt der nochmal. Arroganz fängt zwar mit demselben Buchstaben an wie Arbeitslosigkeit. Bis Sie selbst auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen gilt aber: Augen zu und löschen!
Streber-Kollegen nehmen Sie in einem endlosen Chatverlauf mit XXL-Verteiler in Geiselhaft? Jetzt nicht die Nerven verlieren und die Gruppe verlassen. Stattdessen: Großzügig drüberweglesen. Keep calm and sitz it out. Irgendwer wird schon antworten.
Ein hyperaktiver Teamneuling braucht schnell eine Antwort und war so doof, nicht "dringend" in die Betreffzeile zu schreiben? Verpassen Sie ihm eine kleine Lektion in Sichtbarkeit. Tun Sie: nada.
Digitale Wegelagerer mit Ziffern im Namen bieten Viagra, ein Grundstück an der Elfenbeinküste oder sofortige Gewichtsabnahme ohne Diät? Jetzt können Sie üben: Ab damit auf den Mail-Kompost!
Accounting-Achim setzt Ihnen eine völlig unrealistische Antwortfrist? Genau Ihr Humor. Sie lassen sich nicht unter Druck setzen. Nicht von dem. Gemütlich ist das neue Geschäftig. Lassen Sie Ihre SENDEN-Taste verstauben und gießen Sie erstmal die Büropflanze!
Ihr bester Freund im Job: Der Abwesenheitsassistent. Ja, sie waren vom 1.-15. August im Urlaub. Okay, es war der August 2022. Egal. Wer Ihnen schreibt, soll sich ruhig vorstellen, dass Sie mit einem All-Inclusive-Bändchen Mojitos am Infinity-Pool schlürfen. In Wirklichkeit dösen Sie drei Räume weiter. Nicht Out of Office, sondern im Office, und zwar mit Gratiswasser aus dem Spender.
Übergriffige Kollegen fügen Sie zu einer WhatsApp-Gruppe hinzu. Was tun Sie? a) Sie lesen alles und antworten nie, b) Sie stellen sofort auf stumm, c) Sie sind der Meister des Antäuschens, der Leroy Sane des Smartphones. Wenn im Display "schreibt..." erscheint, freut sich Ihr digitales Gegenüber auf eine Antwort. Die natürlich nie kommt.
Sehen Sie? Ist doch ganz einfach. Wenn Sie im mittleren Management arbeiten und ihr Gestaltungsradius exakt bis zur Menüauswahl in der Kantine geht, dann ist das Nichtbeantworten von Mails die ultimative Entscheidungsfreiheit. Mit diesem kleinen Kniff fühlen Sie sich mächtig und schlagen außerdem zwei Fliegen mit einer Klappe. 1) Sie wirken vielbeschäftigt. 2) Sie sparen Zeit. Zeit, die Sie für Calls verwenden können. Calls, in denen Sie exakt das Gleiche tun, also nichts.
Übrigens sind Sie nicht allein. Nicht nur Manager, auch Restaurants, Konzertveranstalter und sogar Freunde ziehen die Mail-Null-Nummer immer öfter durch. Abtauchen, Luft anhalten, warten.
Aber warum? Eine Studie der kanadischen Waterloo(!)-Uni in Zusammenarbeit mit Microsoft hat genau das vor wenigen Jahren untersucht und herausgefunden: 16 Prozent aller Arbeitnehmer reagieren auf mindestens eine Mail pro Tag NICHT. Die Gründe sind so schräg wie vielfältig: Zu viele Menschen im Verteiler. Wichtigeres zu tun. Keine Lust.
Gehören Sie zu diesen 16 Prozent? Dann tappen Sie nicht in die Aktionismus-Falle! Ein echter Business-Löwe liegt auf der Lauer, bis die Antilopen ans Wasserloch trotten. Je wichtiger Sie fürs Unternehmen sind, desto langsamer sollten Sie antworten. Geben Sie den Scholz: Tun Sie so, als ginge Sie das alles gar nichts an.
Gecheckt? Machen Sie es wie die Anderen: Seien Sie nicht länger Opfer dreister Deadlines! Lassen Sie sich nie mehr von frechen Fristen frusten! Befreien Sie sich aus der Kommunikations-Knechtschaft! Will jemand etwas von Ihnen, stellen Sie sich einfach tot. Wer schreibt, verliert!
Das geht exakt so lange gut, bis das Telefon klingelt...
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