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  • AutorenbildAnna Gelbert

Gott macht Home Office

Aktualisiert: 27. Apr. 2023


Die gute Nachricht zuerst: Der Laden läuft trotzdem. Muss ja. Die schlechte Nachricht: Ständig brennt irgendwo was an. Und wir Menschen müssen wieder Mensch sein, um das in den Griff zu kriegen. Der Entschleunigungs-Artikel auf meinem Nachttisch, für den die Frauenzeitschrift 8 Minuten Lesezeit veranschlagt, wirkt lächerlich. Entschleunigt wird jetzt - und zwar so richtig:

Jeder meiner Tage folgt einem monotonen Muster: Früh aufstehen, gemeinsames Essen, Schule und Schreibtisch, gemeinsames Essen, Sport, Supermarkt, gemeinsames Essen, Serie, Schlafen. Zeit ist das neue Klopapier. Am Anfang wollten es alle haben. Jetzt liegt es zuhauf irgendwo rum.

Die Kliniken füllen sich. Die Ansteckungszahlen schwächen sich ab. Der hübscheste Virologe ist eingeschnappt, weil er jetzt mit Medien zu tun hat statt nur mit Viren. Die Kinder vermissen ihre Schule. Meine Diät schlägt an. Die Lehrer übertreiben mit ihren Arbeitsaufträgen. Auch Leute, die so etwas hassen, schicken jetzt lustige Memes. Wenn schon viral, dann richtig. Es gibt Trinkgeld für Kassierer und manchmal ein Lächeln. Drinnen wird es wärmer. Draußen auch. Die Leute werden ungeduldig. Wann geht's wieder los? Bisschen Geduld noch.

Wir fühlen mit Kleinunternehmern, die jetzt ins Bodenlose schlittern. Wir fühlen mit Familien, die in einen Streß-Tornado geweht wurden, mit Senioren, die jetzt auf Zimmer 5 im Haus Sonnenschein auf Besuch warten. Wir fühlen, dass Balkon-Applaus nicht reicht für all die Helden dieser Stunden, die nur: ihren Job machen. Wir fühlen gleichzeitig, dass neue Fragen hochgespült werden: Muss es nicht verdammt erfüllend sein, jeden Tag Menschen zu helfen? Ist es nicht absolut sinnlos, seine Lebens-Arbeitszeit mit Excel-Tabellen zu verschleudern und sich dreimal im Jahr in den Ferien zu fragen, warum man sich so leer fühlt?

An manchen Tagen geht gar nichts. Im Roboter-Modus hake ich die Stationen meiner neuen, immergleichen To-Do-Liste ab. Selten fließen Tränen. Schnell wegwischen. Die Kinder sollen nicht sehen, dass wir manchmal auch nicht wissen, wie es weitergeht.

Die Kinder. Diese Wochen mit Euch, Kinder, werden wir nie vergessen. Sie sind ein Geschenk, das mitten in unsere hektischen, getakteten, überfüllten, gestressten Leben gebombt wurde. Zeit mit Euch. Viel Zeit. Manchmal gab es Streit. Um Playstation-Zeiten, die Hausaufgaben. Aber: Es gab immerhin Zeit für Streit. Wie viele unserer Kinder gehen abends mit ihren Sorgen ins Bett, weil wieder keine Minute dafür war, zwischen Schule, Hobbies, Haushalt. Sag schnell, wie war Dein Tag? Jetzt sind unsere Tage, Kinder. Wenn Ihr eines Tages mit Umzugskisten und Freunden einen Billig-Transporter beladet, um in Eure erste WG zu ziehen, wenn wir weinend und zurückgelassen in der Tür stehen, werden wir genau an diese Wochen denken. Euch beim ausgiebigen Frühstück zuzuhören, Euch beim Schlafen zu beobachten, Euch beim Rollerbladen in der Frühlingssonne zuzuschauen, das ist das Gold dieser Krise. "Gleich, ich kann jetzt nicht!", sagen wir immer seltener. Wir haben es viel zu oft gesagt. Wo waren wir all die Jahre, als Ihr größer wurdet und das gemacht habt, was wir so jämmerlich versuchen: Wachsen und besser werden? Jetzt haben wir die Chance, das Wunder Eurer Existenz zu genießen. Ja, auch mit Diskussionen. Daran wachsen Beziehungen. Es ist schön, mit Euch zu leben.

Woche 3. Wir sind wieder mehr Mensch. Vieles bleibt unverständlich. Gott macht Home Office. Wir beide haben gleich einen Call.


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