Es ist allgemein hip, den Muttertag als nerviges Event der Blumen-Industrie zu bashen, als Event mit fragwürdiger Historie, voll scheinheiliger Schleimerei. Seufzen und verständnisvolles Augenverdrehen morgens beim Bäcker, wenn Familien Herztörtchen kaufen (natürlich nur ironisch) und kurz darauf Selbstgemaltes überreichen: Heute geht's mal nur um Mutti - morgen zum Glück nicht mehr.
Gerade gibt es etliche Kampagnen mit hashtags wie #zeitdiebleibt, die uns animieren sollen, der wichtigsten Frau in unserem Leben Danke zu sagen - ganz unironisch. Richtig so.
Meine eigene Mutter legte nie Wert auf diese 24-Stunden-Huldigung. "Muttertag ist das ganze Jahr", sagte sie und zog ungerührt an ihrer Zigarette. "Bringt mir lieber mal außer der Reihe Blumen mit." Wir wussten beide, dass das unwahrscheinlich war und gingen wieder an unsere Arbeit.
Heute käme ich ihrem Wunsch nicht nach. Ich würde rebellieren, Tochter-Ungehorsam ausüben, und zwar mit Anlauf.
Ich brächte ihr üppige Sträuße, garniert mit einer Karte, gerne in Form eines Rankings, einer Textform, die sie als Bücherwurm sicher banal gefunden hätte (Seit ich blogge, weiß ich aber, dass bestimmte Zahlen Booster für die Click-Rate sind):
10 Weisheiten, für die ich Dir ewig dankbar sein werde, 7 Seelentröster-Gerichte, die Du mir beigebracht hast, und von denen ich noch nicht ahnen konnte, dass sie für den Rest meines Lebens so viel mehr sein würden als nur lecker: Geborgenheit, konzentriert in einem duftenden Topf. Die 1 000 000 schönsten Momente, die wir beide zusammen erleben durften. 5 Streit-Themen, bei denen wir uns gegenseitig in Rekord-Geschwindigkeit auf die Palme bringen. 5 Gründe, warum wir uns trotz aller Ausraster immer sicher und geliebt fühlen, 3 Eigenschaften, die ich von Dir geerbt habe, die wir beide nicht mögen. 7 Eigenschaften, die ich von Dir geerbt habe, die mich noch weit durchs Leben tragen werden. 5 Seiten, die ich an Dir schätze, seit ich erwachsen bin (oder zumindest ein alterndes Kind), 3 Dinge, die ich als Mutter anders machen will, 3 Probleme, die ich versucht habe, Dir vorm Therapeuten heimlich in die Schuhe zu schieben, die aber mein eigener Emo-Müll sind. 5 Notlügen, die wir beide anwenden mussten, um uns gegenseitig vor unangenehmen Wahrheiten zu schützen, 5 Menschen, die Dich sehr glücklich gemacht haben, die einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. 300 Dinge, die ich als Mutter genauso machen möchte wie Du. Milliarden Dinge, die ich vermissen würde, solltest Du einmal nicht mehr sein.
Ich würde diese Zeremonie stur jedes Jahr im Mai wiederholen. Gerne auch im Juli und September, einfach, weil ich es könnte und, weil ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen würde, wenn ich es nicht täte.
In Großbritannien feiern die "Mum, tell me"- Journale seit einer Weile Erfolge: Mütter und Kinder können sich schriftlich Dinge mitteilen, die in den Erziehungs-Jahren zwischen Wäschebergen und Hausaufgaben verpuffen. Motto: Es ist nie zu spät, Deine Mutter nach ihren größten Liebes-Flops und heimlichen Sehnsüchten zu fragen.
Diplomatisches Rumgedruckse ("da weck ich mal lieber keine schlafenden Hunde") oder Aufschieben auf einen späteren Zeitpunkt ("Wir sehen uns ja Weihnachten") sind immer falsch, wenn irgendwo eine Lebens-Uhr tickt. Das Verhältnis zwischen Müttern und ihren Kindern ist ab der Sekunde Null das radikalste, symbiotischste, schwierigste und offenste überhaupt. Nur schade, dass im Laufe der Jahre soviel Schweige-Gras darüber wächst. Wenn Eltern anfangen, wieder Kinder zu werden, ihre Eigenheiten pflegen und Hilfe ablehnen, dann wenden sich die Jungen genervt ihrem eigenen, stressigen Leben zu. Merken Kinder, wenn sie innerlich langsam Abschied nehmen von den Menschen, die ihnen das Leben geschenkt haben? Resignieren sie, wenn der Radius der Alten immer enger wird, das Verhalten immer schrulliger? Oder nehmen sie die Beziehungsarbeit auf - auch auf den letzten Kilometern - und sorgen für eine offene, nicht immer friedliche Kommunikation? Warum rühren uns die Macken von Kindern so sehr, die Spleens der Alten aber nicht?
Ich hatte einmal eine wunderbare Kollegin, die im Großraum-Büro regelmäßig von ihrer Mutter angerufen wurde: "Jaaaa, Mama, ich hab an den Stromableser gedacht, nein, Sonntag kommen wir nicht zum Essen! Du, können wir später quatschen, ich bin im Stress, tschüss." Augenrollen. Mannmannmann. Mütter.
Ich beneidete sie. Um den Luxus des Gernervtseins.
Auch ich wartete auf einen Anruf von meiner Mutter. Allerdings aus einer Klinik. Wäre sie heute stark genug, zu telefonieren? Hatte die Bestrahlung angeschlagen? Ich fieberte dem Moment entgegen, in dem ich ihre geliebte Stimme hören würde, täglich schwächer werdend. Der Inhalt des Telefonats? Egal. Hauptsache das Band, unser Band, wäre da.
Ihr Tod richtete in meiner Seele ein Blutbad an. Die Narben trage ich heute mit Stolz. Denn wir haben schon zu Lebzeiten alles gesagt.
Am 12. Mai ist Muttertag. Macht was draus. Schenkt, sprecht, liebt!