Beim Vorlesen bricht ja gerne mal ein Weltbild zusammen: Neulich abends waren es sogar gleich zwei.
Das Szenario: 20 Uhr 30, meine Tochter kuschelt sich in meinen Arm. Es ist diese Stunde, in der Mütter nach Nachtcreme riechen, die Spülmaschine all die Mahlzeiten des Tages wegrattert, endlich Frieden herrscht. Mit schlaftrunkener Stimme lese ich Pippi Langstrumpf vor. Unzufrieden stützt sich meine Tochter auf: "Aber muss denn die Pippi auf ihrem Pferd gar keinen Helm tragen?"
Ich: "Nein, das ist hier offenbar nicht der Fall."
Sie: "Aber wieso darf denn da einfach ein Pferd leben?"
Vermutlich peilt sie jetzt schon eine Karriere im Ordnungsamt an.
Ich: "Das ist ja das Besondere an Pippi!"
Und in diesem Moment wird mir klar: Wir träumen alle von Pippi, erziehen aber Tommy und Annika, die sturzlangweiligen Nachbarskinder.
Das Besondere an den Helden unserer Kindheit war ihre Freiheit - und das gilt sowohl für ihre Schöpfer als auch für die Charaktere selbst. Sie alle konnten kreativ sein, weil sie nicht zu Tode behütet wurden. Hat jemals jemand etwas Großes erschaffen, während Mama und Papa mit Arnika-Kügelchen daneben standen? Erziehen wir Helikopter-Eltern die Generation Mittelmaß?
Stellt Euch bitte Michel aus Lönneberga im Jahr 2018 vor. Der Lausbub wäre von seinen vorausschauenden Eltern bis an die Lückenzähne (Termin beim Kiefer-Orthopäden nicht vergessen!) haftpflichtversichert, für die Streiche bliebe ihm ohnehin keine Zeit, weil er zwischen Geige und Fußball keine Sekunde unbeaufsichtigt wäre.
Ein paar Höfe weiter in Bullerbü hätten sich Lasse, Bosse, Ole, Lisa, Britta, Inga niemals zum Spielen verabreden müssen, weil ihre Eltern die Playdates für Nordhof und Mittelhof schon Wochen vorher im Outlook festgelegt hätten, begleitet von halbherzigen Absichtsbekundungen ("Du, lass uns unbedingt mal wieder alle zusammen was machen!")
Madita hätte niemals eine Erbse tief in die Nase gesteckt, weil ihre Eltern im Erste-Hilfe-Kurs für Kinder schon längst gelernt und verinnerlicht hätten, dass Erbsen, Murmeln und Erdnüsse in einem Haushalt mit unter-9-Jährigen nichts verloren haben, da sie die Luftröhre verschließen. Spätestens der Logopäde (Diagnose: Andeutung eines Lispelns), der Ergotherapeut, bei dem sie wegen falscher Stifthaltung in Behandlung wäre oder der Osteopath ("Verdacht auf einseitige Belastung"), hätte herausgefunden, dass etwas mit ihren Atemwegen nicht stimmt.
Ach, und hat bei Ronja Räubertochter jemand an die dritte FSME-Impfung gedacht? Was, wenn das Kind aus dem Wald eine Zecke mit heimbrächte?
Alpen-Hippie-Kid Heidi gilt als Idol für Freigeister, Tierliebhaber und Wanderfreunde - aber eigentlich führt ihre Freundin, die gelähmte Klara in Frankfurt so ziemlich das Leben, das die meisten unserer Kinder kennen: Viel drinnen, immer unter Aufsicht, eingeschränkt.
Hätten Bibi und Tina je ein Abenteuer erlebt, wären ihre Mütter nicht mit dem Martinshof und der Hexerei so schwer beschäftigt gewesen? Heute hätten sie Reitunterricht, Susanne Martin säße mit dem Handy neben der Koppel, jeden Fortschritt dokumentierend, dazwischen mit Freundinnen whats append.
Bei Hexe Lili wären wohl ein Betreuer vom Jugendamt UND das Veterinäramt Dauergast: Keine Eltern weit und breit- und die Bude voller Viecher. Alles klar.
Die drei Fragezeichen wären heute wohl die Ludolfs: Ein paar Typen, denen auf dem Schrottplatz langweilig ist. Der größte zu lösende Fall wäre ein TV-Team und die Frage, wie man es am besten loswird. Vermutlich stünde da heute eine Konsole - und die Bücher wären auf Seite 4 auserzählt.
Das Sams würde wohl Gegenstand einer Anti-Mobbing-Kampagne werden, Martin Taschenbier hätte seine erste Start-Up-Million als IT-Nerd auf dem Konto.
Das erste Kind von Heilkopter-Eltern, an das ich mich erinnere, ist Conny - ja, die mit der Schleife im Haar, der übelste Kotzbrocken der Kinderbuchwelt: Mama immer da - und immer mit einem erhobenen Zeigefinger und spießigen Weisheiten ("Immer nur so viele Kinder einladen, wie Lebensjahre." "Haustiere nur anschaffen, wenn Du auch mit für sie sorgst") Papa abends daheim - und dann nur als trotteliger Hilfskoch dieses Familieneintopfs, über den herzlich gelacht werden darf ("Mensch, da hat Papa doch zum dritten Mal die Frühstücksbrötchen vergessen, dieser Schussel!"). Da werden minütlich zusammen Geburtstagseinladungen bemalt, Migrationshintergrundkind Semire kommt zur Party (auch an Putenwürsten ist gedacht), Connys kleiner Bruder nervt oft rum, dafür gibt`s von der großen Schwester aber nicht heimlich eine aufs Maul, sondern höchstens mal ein unzufriedenes "Och Menno".
An Conny, einem der erfolgreichsten Kinderbuch-, mittlerweile auch Kino- und Hörspielcasts, zeigt sich für mich der Niedergang der Helden für 4-10-Jährige.
Wo sind all die kleinen Abenteurer und Abenteurerinnen hin? Schreiben Kinderbuch-Autoren auch nur noch mit Arnika auf dem Tisch und Wundheilsalbe im Anschlag? Darf denn niemand mehr so richtig abrasten? Sich fette Sonnenbrände holen? Streiche spielen?
Ich gestehe hiermit: Auch ich bin eine Helikopter-Mom. Vergessene Hausaufgaben fallen auf mich zurück, Kinderkaries ist meine Schuld, vergessene Turnbeutel fahre ich heimlich in die Schule hinterher, Strafarbeiten quatsche ich den Lehrern aus. Das Zeugnis? Na meins natürlich.
Wir Heli-Eltern können alles - außer Loslassen.
Das muss aufhören! Wir fühlen uns oft zu zuständig für Dinge, die auch mal schieflaufen müssen. Kinder brauchen das Recht auf Mistbauen.
Gestern bei der Abfahrt meiner Tochter auf einen Bauernhof. (Allein mit dem Kindergarten, und das mit 6 Jahren!): Fast alle Eltern sprinten noch einmal in den wartenden Bus (bekommt denn auch wirklich NIEMAND Heimweh oder wenigstens Bauchweh? Jetzt wäre die letzte Chance, noch einzugreifen, die Kinder vor Stall-Bakterien, Einsamkeit und Dehydrierung zu retten. Da sagt meine Tochter: "Tschüss Mama, ich werde Dein Handy vermissen!"
Fahr mal, Schatz. Viel Spaß, ich hab Dich lieb!